Als „Hilfsamerikaner“ verlieren wir unseren eigenen, deutschen Wohlstand

Das – kleine – deutsche „Reich der Mitte“ verliert sich, vergisst sich. Das andere – große – chinesische Reich der Mitte übernimmt. 

Ich bin auf einen Beitrag in der „Berliner Zeitung“ vom 09.09.23 gestoßen, der mein Denken auf eine entscheidende Weise bestätigt und neu anstößt.

Manfred Osten, Spitzendiplomat, Goethe- und Konfuziuskenner sowie ehemaliger Generalsekretär der Humboldtstiftung, im Interview: Deutschland überfordert: China übernimmt jetzt Goethe. Als Merkel zu Besuch bei Präsident Xi war, trug ihr dieser auf Deutsch einen entscheidenden Goetheschen Satz aus Faust II vor: Nur der gewinnt sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss. Ich stelle mir vor, dass sich die deutsche Delegation dagegen verwahrte und betonte, dass Deutschland eine weltoffene Gesellschaft sei und sie diesen Satz deswegen nur auf Englisch verstehen könnten.

Xi hatte ihn verstanden, auf direktem Wege, vom Deutschen ins Chinesische. Er wurde durch „den tiefen politischen Sturz seines Vaters in Sippenhaft genommen. … Er ist [als Jugendlicher und junger Mann] über Jahre hinweg unsäglich gedemütigt worden und hat sich emporgearbeitet. Xi ist also im Grunde ein Konfuzianer.“

Nur wer sich anstrengt und mit dem Eigenen, der eigenen Sprache und Kultur beginnt, lernt viel und intensiv. Weil Deutschland auf dem absteigenden Ast ist, wird der „Faust“ in immer mehr Bundesländern aus den Lehrplänen gestrichen. Dafür soll offenbar mehr Weltliteratur original auf Englisch gelesen werden. (Sei nicht traurig, lieber Johann Wolfgang, wenn Dich immer mehr Jugendliche in Deutschland nicht kennen, Dich vielleicht für einen Influencer halten, der angesagte Schminktipps gibt. Dafür wird es in China mehr Jugendliche geben, die wissen, wer Du wirklich bist. Vielleicht sind sogar welche vom Format Sahra Wagenknechts dabei, und sie lernen den gesamten Faust auswendig.)

Das ist die eine Grundvoraussetzung für Lern- und Lebenserfolg: Sich dem Eigenen zuzuwenden, von ihm auszugehen und dorthin zurückzukommen. Das andere ist: Nicht auf die Freude beim Lernen als entscheidenden Punkt zu setzen, wie es der Westen tut, sondern auch auf Pflichtbewusstsein und Anstrengungsbereitschaft.

Richtig ist: Nur wer emotional möglichst tief beteiligt ist, kann effektiv lernen. Aber Emotionen entstehen auch beim Ringen, geführt durch die Lehrer und zusammen mit anderen Schülern, gegen die eigene Bequemlichkeit und Faulheit. Nur wer auch dann noch weiterlernen kann, wenn es ihm gerade keinen – oberflächlichen – Spaß (mehr) macht, nur, wer gar nicht auf die Idee kommt, das Maß des Vergnügens zum Hauptkriterium des Lernens zu erheben, wird im Leben Erfolg haben.

„In großer Not und Gefahr überlebt nur das Kollektiv und nicht eine anarchische Individual- und Streitgesellschaft. Der Einzelne kommt todsicher nicht durch, aber das Kollektiv überlebt. Konfuzius konnte sich hierbei auf die chinesische Sprache beziehen: Sie kennt keine Konjugation der Verben. Es ist unmöglich, sich in der chinesischen Sprache als ‚ich‘ zu präsentieren.“ (Siehe oben: Deutschland überfordert: China übernimmt jetzt Goethe)

Konfuzius hat also den Kommunismus antizipiert?

„Zumindest steht der Gemeinsinn und nicht der Eigensinn im Zentrum einer Gesellschaft. Das hängt damit zusammen, dass Konfuzius in einer Gesellschaft geboren wurde, die im Grunde bis zum heutigen Tag eine hydrologische Reisbauernkultur ist. Wir Europäer sind dagegen das Ergebnis einer agrarwirtschaftlichen Kultur, wo man sich hinter Mauern und Hecken verstecken und im besten Fall über den Anwalt miteinander kommunizieren kann. Die Reisbauern-Gesellschaft in China ist dagegen verbunden durch kommunizierende Wasserröhren, bei denen es darauf ankommt, dass jeder das Wasser nimmt, aber auch gibt. Das ist für China existenziell, denn China hat nur etwa sechs Prozent der Anbaufläche der Welt bei einem Fünftel der Menschheit. Das heißt, China ist ständig vom Verhungern bedroht. Und die Seidenstraße ist unter anderem auch der Versuch, diesem Problem durch dauernde Nahrungszufuhr abzuhelfen.“

Diese strategische Ausrichtung  – weg vom „West-Ich“ hin zur Gemeinschaft als Familie, Schule und Nation – als Grundvoraussetzung gelingender Erziehung ist das, was ich seit Jahrzehnten zu sagen versuche. Hier auf dieser Seite in allen Beiträgen zum Thema „Zeitzeichen Autismus“, insbesondere in Die Grundfrage der Erziehung.

Welcher Weg führt weiter? Der, darauf zu achten, dass auch ja jedes einzelne Individuum von vornherein Spaß oder Lust beim Lernen hat, oder der, dass es darum geht, was ein Kind in einer Gemeinschaft für diese und die größeren Gemeinschaften seines Lebens lernen kann, vor allem mit Disziplin, die dann später zu einer tiefen Genugtuung führt, etwas Schweres mit Hilfe des Lehrers und der Mitschüler geschafft zu haben?

„China verfügt seit Jahrtausenden über das hohe qualitative Alleinstellungsmerkmal einer Sprache, deren Erwerb nur durch extreme Leistungsbereitschaft möglich ist. Durch die Schrift hat China die Erde zu einem asketischen Stern verwandelt – und zwar im ursprünglichen Sinn des Wortes Askese: Üben.

Goethe hat, wie Konfuzius, gesagt: Nur die Fähigsten sollen einen Staat führen dürfen. Das trifft sich mit dem Konzept der Chinesen, wonach es strenge Kriterien gibt, damit jemand Politiker werden darf. Interessiert das die Chinesen auch an Goethe?

„Goethe erschien in Deutschland als Ausnahme in einer idealistisch und romantisch orientierten Gesellschaft – nämlich als Erzrealist. Er war überzeugt: Um einen Staat zu führen, wird vor allem pragmatische Staatsklugheit benötigt. Goethe glaubte nicht, dass man einen Staat aus einer abstrakten Vernunftidee heraus führen kann. Nur die Tüchtigsten, die sich konkret mit Problemen beschäftigen und sie lösen wollen, können einen Staat führen. Er selbst war ja ein Leben lang Staatsminister aller Ressorts! Das war seine Art praktischer politischer Klugheit. Er hat außerdem dialektisch gedacht: Ich diene gern, weil die Herrschaft draus entspringt.“

Auch heute streicht die Kommunistische Partei hervor, dass sie 700 Millionen Menschen aus der Armut geführt hat – und bezieht dadurch ihre Legitimität.

„So ist es, und Goethe ist der Repräsentant der Vorstellung: Was ich bin, bin ich anderen schuldig. Er kannte das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen und wusste, dass das Überleben am Ende nur durch das Kollektiv möglich ist: Ein jeder übe seine Lektion, so wird es gut im Rate stohn.“

Wie wird man in China Politiker?

„Man wird Politiker, indem man die meritokratische Karriere des chinesischen Lebens meistert. Die beginnt damit, dass Sie mit drei Jahren in den Kindergarten kommen, der Sie vorbereitet auf die verpflichtende Grundschule von neun Jahren. Sie müssen vor allem ständig Prüfungen ablegen, um etwas zu erreichen – bis hin zum Gao Kao in der zwölften Klasse. Und der Steigungswinkel ihrer Karriere richtet sich nach den Ergebnissen des Gao Kao. Das alles geschieht auf der Grundlage einer Sprache, deren Beherrschung bereits zur Aufnahme im Kindergarten nachgewiesen werden muss, in Gestalt von unterschiedlichen Tonhöhen und Zeichen, Idiogrammen. Um das zu erreichen, werden die Kinder im Kindergarten sofort ganztags beschult, um die schwere Aufnahmeprüfung in die Grundschule zu schaffen.“

Das stelle man sich einmal vor: Jeder, der zum chinesischen Gemeinwesen gehören will, jeder, der vom chinesischen Staat profitieren will, muss da durch. Der Gegensatz zu Deutschland, wo Zugewanderte noch in der 3. Generation nur ein verstümmeltes Deutsch können und können wollen sollen (Isch geh Schulhof), ist frappierend.

Also keine Spielkrippe?

„Überhaupt nicht. Die Ausbildung wird nach einem strengen Curriculum absolviert. Man beginnt mit mehreren hundert Idiogrammen und den zugehörenden Tonhöhen. Wenn man im Chinesischen sagt ‚Ma‘, muss man als Kind mindestens wissen, dass es entweder ‚die Mutter‘ oder ‚das Pferd‘ oder ‚ich schimpfe‘ oder ‚es tut mir weh‘ bedeuten kann. Dies muss in Millisekunden begriffen werden. Die Sprache verlangt höchste Konzentration.“

Das Erlernen der chinesischen Sprache ist also gleichzeitig Ausbildung in Musik, bildender Kunst, Mathematik und Konzentration. Das ist ja ein enormer Startvorteil für diejenigen, die das als Kinder gelernt haben. Ist das einer der Gründe der chinesischen Erfolge?

„Die Neurowissenschaften der Universitäten in Washington und Shanghai haben das untersucht. Das Ergebnis ist eindeutig: Es werden neuronale Kompetenzen entwickelt, von denen wir im Westen wenig wissen. Denn das Gehirn entwickelt in früher Zeit bereits ein zeichenhaftes Gedächtnis und es wird außerdem ein gutes akustisches Gedächtnis entwickelt für die Tonhöhen. Man erlernt hierbei eine hohe Konzentration. Alle diese Fähigkeiten sind irreversibel, weil sie so früh erlernt werden. Das heißt, es entsteht eine Leistungs- und Motivationskonditionierung, die nie wieder verloren geht.“

Wenn ich das jetzt mit unserem Bildungssystem vergleiche …

(Lacht laut und herzlich): „Das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das mit dem Prinzip einer Kuschelpädagogik jedenfalls nicht vereinbar ist.“

Diese komplexe Sprache befähigt die Chinesen in einzigartiger Weise zu außergewöhnlichen Leistungen – unabhängig davon, ob jetzt die Kommunisten regieren oder ein Kaiser?

„Alle Fremdherrscher, die versucht haben, China zu beherrschen, wie die Mandschus oder die Mongolen, sie alle mussten sich dieser Sprache unterwerfen. Sie mussten sie lernen, ob sie es wollten oder nicht.“

Komisch, dass alle, die versuchen, Deutschland zu beherrschen, sich nicht seiner Sprache unterwerfen (müssen), sondern es umgedreht geschafft haben, dass sich die Deutschen den Eroberer-Sprachen unterwerfen. Das ist wahrscheinlich der fundamentale Unterschied zwischen China und Deutschland, der erklärt, dass die einen zum strategischen, langfristigen Erfolg bestimmt sind und die anderen zum Untergang, ebenfalls strategisch und langfristig, wenn Deutschland nicht anfängt, von China zu lernen.

Ist es nun so wie bei der Musik: Wer diese komplexe, nuancierte und vielschichtige Sprache besser und schneller erlernt als die anderen, der kommt auch nach oben?

„Da sind wir wieder bei Goethe. Er war dieser meritokratische Typus eines chinesischen Bildungsadels. Denn er hat sich gleich im ersten Vers des erwähnten Gedichtzyklus als Mandarin bezeichnet. Die Mandarine waren die Grundlage des chinesischen Reichs über Jahrtausende: Beamte, die durch drei der schwierigsten Prüfungen der Welt aufgestiegen sind bis zum Mandarin erster Klasse in einer Prüfung vor dem Kaiser. Die das geschafft haben, sind im Konfuzius-Tempel in Peking in ehernen Tafeln für die Ewigkeit eingeritzt als die Leistungsträger dieses Reichs.“

Gilt das heute auch noch? Im Westen wird von den kommunistischen Führern gerne abwertend als Partei-Bonzen geredet.

„Der Staat besteht im Wesentlichen aus geprüften Gao-Kao-Mandarinen. Nachdem Mao Tse Tung die Konfuzianer an die Wand gestellt hatte, hat sich sein Nachfolger Deng Xiao Ping der Mandarine erinnert und deren Bildungs- und Leistungsprinzipien für alle Chinesen verbindlich gemacht. Auf diese Weise ist es China gelungen, 700 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien. China ist zur größten Handelsmacht avanciert und auf dem Weg dorthin, wo es schon einmal war, nämlich in der Song-Dynastie vom 10. bis zum 13. Jahrhundert: zur technologischen und wissenschaftlichen Führungsmacht der Welt.“

Die deutschen Politiker fühlten sich noch bis vor wenigen Jahren sicher, als sie den Handel mit China forcierten, immer mehr Fabriken, insbesondere der Autoindustrie dort bauten. Sie verfielen in ihren alten Fehler des Hochmuts, diesmal ein auf neue Art vertiefter und verschlimmerter, weil Deutschland ja nun endlich „im Westen“ angekommen war. Die Chinesen würden nie so kreativ und innovativ werden können, wie der Westen es mit seinem Individualismus ist. Sie haben sich geirrt. Ulbricht und Honecker ist es nicht gelungen, aber den Chinesen: Überholen ohne einzuholen. Die auf Gemeinschaft und Disziplin getrimmten chinesischen Schüler liefern, erwachsen geworden (und vielleicht auch schon davor), mehr Patente als „der Westen“, der glaubt, dass er die höchstmögliche Staatsform, die „Demokratie“, für sich gepachtet hätte.

2 Kommentare zu “Als „Hilfsamerikaner“ verlieren wir unseren eigenen, deutschen Wohlstand”

  1. D. sagt:

    Ist es unter diesen Umständen vernünftig, für ein ,Wir‘ zu streiten, das die überzeugtesten Widersacher einschließt?

    Ich heule lieber mit den Chinesen in allen Tonhöhen: Für die deutschen Deutschverächter mache ich jedoch keinen Finger krumm und werde mich für sie und ihre Plagen auch nicht effektiveren Fingerkrummmachern entgegenstellen.

    Früher las ich ,Deutschland muss untergehen, damit wir leben können!‘
    Kaufman meinte ,Germany must perish!‘.

    Die Gutmenschen-Karrikatur, die deutscher nicht sein könnte, aber eben unter umgekehrten Vorzeichen, quasi das ‚Reich des unbedingt Guten‘, muss nun von dem tumb-interessenverbohrten Sein der Mit-Völker erst zur Beute gemacht und dann verworfen sein, ehe es einem die Brust weiten könnte, Deutscher zu sein.

    Bis dahin Finger weg von Deutschem Wir.

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